SAP braucht eine Runderneuerung
In meiner Jugend habe ich unter anderem Vulkaniseur beim Münchner Unternehmen Stahlgruber gelernt, einem SAP-Bestandskunden und bekannten Hersteller der Tip-Top-Schlauchflicken für Fahrradreifen. Der Vulkaniseur kennt zwei wesentliche Arbeitsgebiete: das Reparieren von Förderbändern sowie das Flicken von Reifen und Schläuchen. Ein Spezialgebiet war die Runderneuerung von Autoreifen. Als Ressourcen noch geschätzt und wertvoll waren und mehr repariert als weggeworfen wurde, war die Runderneuerung von Autoreifen ein respektiertes Handwerk: Der Gummi des Reifens wird bis auf die Karkasse abgefräst, Kautschuk wird aufgetragen, ausvulkanisiert und ein neues Profil wird geschnitten. Im Regelfall sind solche Reifen nur bis etwa 80 km/h zugelassen, aber es gibt zahlreiche Anwendungsfälle, wo es ausreichend ist.
SAP braucht eine Runderneuerung! Warum? Basiswerte und Parameter, die sich nicht in der Bilanz finden, geben Anlass zur Sorge. Hier wird kein Schreckensszenario an die Wand gemalt, sondern aufgefordert, etwas genauer hinzusehen: SAP hat Ende April die Quartalszahlen veröffentlicht und einen weiteren Erfolg mit Cloud Computing gefeiert. Am Tag der Bekanntgabe der Zahlen durch CEO Christian Klein und den neuen CFO Dominik Asam katapultierte sich der Aktienkurs um etwa fünf Prozent nach oben.
Woher kommt dieser Cloud-Erfolg? SAP reduziert systematisch das On-prem-Angebot: Bekanntestes Beispiel ist APO, Advanced Planner and Optimizer. Das Supply-Chain-Planning-Werkzeug mit In-memory-Datenbank für MPR-Läufe ist abgekündigt. Der Nachfolger heißt IBP, Integrated Business Planning, und wird von SAP-Partnern und -Bestandskunden aufgrund seiner Funktionalität gelobt.
IBP gibt es jedoch nur als Cloud-Angebot. Der Schritt von APO zu IBP ist demnach unfreiwillig auch ein Schritt von On-prem in die Cloud. Damit wachsen aber auch automatisch die SAP’schen Cloud-Umsätze in der Bilanz – ein eleganter Selbstläufer, oder?
SAP agiert disruptiv: Die Bestandskunden werden nicht mit einem besseren Cloud-Angebot überzeugt, sondern durch die Abschaltung von On-prem gezwungen. Diesem Zwang zum SAP’schen Cloud Computing versuchen sich aktuell möglichst viele Anwender zu widersetzen.
Mit Blick auf die aktuellen Preiserhöhungen beim Cloud Computing von Microsoft wurde vielen IT-Verantwortlichen mit einem Schlag wieder bewusst, in welche Abhängigkeit dieses Betriebsmodell einen führt.
Die Public Cloud ist demnach der finale Vendor-Lock-in für die SAP-Bestandskunden und viele IT-Anwender versuchen aktuell, diesen desaströsen Schritt zu verhindern. Mit einer Private Cloud (On-prem) im eigenen Rechenzentrum könnte es gelingen. Vom Automobilhersteller BMW aus München hört man in der SAP-Community, dass Supply Chain Planning mit IBP denkbar ist, dass aber eine Cloud-Abhängigkeit bezüglich extern vorgegebener Wartungsfenster für die eigenen Fabriken nicht akzeptiert wird. Somit erscheint Cloud Computing für viele SAP-Bestandskunden als disruptives Modell.
Disruptive Fluktuation und Beharrung gehören zu den Parametern, die sich nicht in der Bilanz finden und dennoch den Erfolg der SAP-Community bestimmen. Sabine Bendiek, noch Mitglied des SAP-Vorstands und als IT-Managerin über jeden Zweifel erhaben, wurde beim ERP-Weltmarktführer nicht heimisch. Sie wird ihren Vertrag nicht verlängern und zum Ende dieses Jahres aus dem Vorstand ausscheiden. Andere Vorstandsmitglieder bleiben, auch wenn deren Anwesenheit und Bilanz nicht besser erstrahlen.
SAP besitzt aktuell kein Marketing. Die Konzernkommunikation ist nicht existent – mit und ohne Unternehmenssprecher Oliver Roll, der auch noch dieses Jahr den Konzern verlassen wird. Motivation und Begeisterung für den Besuch einer der Hausmessen Sapphire in Orlando, Barcelona und São Paulo sucht man vergebens. Die 50-Jahr-Feier der SAP vergangenes Jahr fand großteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ein stolzes Auftreten in den Medien und eine breite Kommunikation mit der Community fehlten – offensichtlich ist dem SAP-Marketing die Erkenntnis „Tue Gutes und rede darüber“ nicht bekannt.
SAP muss und wird runderneuert: Disruption, Fluktuation und desaströse Beharrung werden die Kräfte für eine Erneuerung hervorbringen. CEO Christian Klein wird sich in den kommenden 24 Monaten mit dem neuen Aufsichtsratsvorsitzenden Punit Renjen ab 2024 eine neue Mannschaft aufbauen. Das Experiment könnte gelingen. Der ehemalige Deloitte-CEO Renjen ist nur etwa 20 Jahre älter als Klein und er kann ohne Altlasten und Rücksichten agieren. Schlüsselpositionen mit einer Hasso-Plattner-Institut-Vergangenheit können neu bewertet werden. Fehlendes Marketing und Kommunikation wird der ehemalige Deloitte-Manager anders angehen. Mit Punit Renjen bekommt Christian Klein einen Partner für die Runderneuerung der SAP.