Digitale Transformation im Einzelhandel
Amazon, Flaschenpost und Co. machen es möglich. Dennoch bietet der örtlich ansässige Handel Konsumenten nach wie vor eine Reihe von Vorteilen: persönliche Beratung, zwischenmenschliche Interaktion und – in vielen Fällen – langjährige Kenntnisse der Kunden und ihrer Bedürfnisse. Immer mehr Händler versuchen zudem, für potenzielle Käufer regelrechte Erlebniswelten zu erschaffen.
Wer heute einen Buchladen betritt, sieht häufig nicht nur Regale voller Literatur. Vielmehr laden bequeme Sessel und das angebundene Café zum Schmökern und Verweilen ein. Im Spielegeschäft kaufen Kunden bei Pizza und Cola ein und bekommen dabei vom Verkäufer die Regeln erklärt. Einkäufe im lokalen Handel gewinnen dadurch einen Eventcharakter, den der Onlinehandel so nicht bieten kann.
Der Onlinehandel
Dennoch bleiben E-Commerce-Unternehmen starke Mitbewerber für lokale Händler. Auch deshalb, da sie das Kaufverhalten vieler Kunden und ihre Erwartungshaltung hinsichtlich der Servicequalität nachhaltig verändert haben. Konsumenten sind so mittlerweile schnelle Lieferungen, unkomplizierte Reklamationen und vielfältige Zahlungsoptionen gewöhnt – und wandern schnell ab, wenn Unternehmen sie diesbezüglich enttäuschen. Dennoch passiert es immer wieder: Die Bestellung beim lokalen Buchhändler dauert deutlich länger als bei gängigen Online-Plattformen, eine auf der Website des Unternehmens als „Auf Lager“ deklarierte Ware ist doch nicht da, wenn der Kunde sie vor Ort abholen will.
“Insellösungen eignen sich kaum für kanalübergreifende Analysen. Dazu wird eine moderne IT-Infrastruktur benötigt.”
Dr. Torben Mauch,
Head of Organizational
Change Management, Nagarro
In vielen Fällen liegt es daran, dass Händler ihre Informations- und Datenflüsse nur unzureichend kennen. Die Digitalisierung der Geschäftsprozesse schafft hier Abhilfe. Durch sie können stationäre Handelsunternehmen ihre Stärken ausspielen und gleichzeitig das Serviceniveau erreichen, das Konsumenten aus dem Netz gewohnt sind.
Der Weg ins digitale Zeitalter
Auch Mona Haarmann und Torben Mauch, Handels- und Organizational-Change-Management-Experten beim IT-Dienstleister Nagarro, sehen noch große Optimierungsspielräume, die Unternehmen durch die Digitalisierung ihrer Betriebsabläufe realisieren könnten. „In vielen Fällen ist beispielsweise das Bestandsmanagement in den Filialen für viele Einzelhändler eine große Herausforderung“, resümiert dazu Mona Haarmann ihre Projekterfahrungen. „So wissen sie häufig nicht, wo sich ein Produkt in der Filiale gerade genau befindet. Dafür reicht es schon aus, wenn Kunden Artikel aus dem Regal nehmen, betrachten – und anschließend falsch einräumen. Regale gezielt aufzufüllen oder auch automatisierte Nachbestellungen werden dadurch sehr schwer“, fährt sie fort.
Das Ausmaß des Optimierungspotenzials durch eine stärkere Digitalisierung variiert dabei sehr stark. Einige Händler verkaufen nach wie vor nur vor Ort, andere besitzen eine Website mit angeschlossenem Onlineshop. Wieder andere nutzen größere Dienste wie Amazon dazu, zumindest einen Teil des Sortiments auch online zu verkaufen. „In vielen Fällen steckt dahinter keine ganzheitliche, durchdachte Gesamtstrategie, sondern viele nicht miteinander vernetzte Insellösungen“, berichtet Torben Mauch. „Solche Insellösungen eignen sich aber kaum für kanalübergreifende Analysen, die eine umfassende Planung ermöglichen. Dazu wird zunächst eine moderne IT-Infrastruktur benötigt.“
ERP als Kern der Digitalisierung
Ankerpunkt einer gelungenen Digitalisierung ist daher stets ein modernes ERP-System wie S/4 Hana, das den Kern einer solchen Infrastruktur bildet. Im Zusammenspiel mit Tools wie der SAP Business Technology Platform (BTP) können Unternehmen damit Prozesse, auch über Unternehmensgrenzen hinweg, automatisieren und Daten aus unterschiedlichsten Quellen zusammenführen, aggregieren und auswerten. „Insbesondere die BTP ermöglicht es Unternehmen, Anwendungen nicht nur isoliert zu nutzen, sondern direkt an das ERP-System anzubinden. In solchen Fällen fungiert die BTP als übergeordnete Schnittstelle und ermöglicht es dem Händler, Daten anwendungsübergreifend und integrativ zu nutzen“, erläutert dazu Mona Haarmann. „Mit SAP for Retail gibt es zudem eine Branchenlösung, die eine taggenaue Datenbereitstellung ermöglicht – ein klarer Vorteil zur isolierten Nutzung des ERP-Systems.“
Unternehmen sind dabei nicht gezwungen, jedes Element einzeln zu erwerben. Rise with SAP offeriert so eine umfassende Lösung, die neben dem cloudbasierten ERP-System S/4 bereits den Zugang zur BTP sowie zum SAP Business Network umfasst.
Entscheidend sind aber letztlich weniger die Tools als solche als vielmehr die Use Cases, die Händler damit umsetzen können. Dabei sind zahlreiche Szenarien denkbar, die sich häufig auch frei miteinander kombinieren lassen:
Verknüpft ein Unternehmen zum Beispiel seine Webshop-Software mit der BTP, kann es die Verkäufe aus dem Off- und Onlineverkauf gemeinsam auswerten – und erhält so ein klareres Bild über das Kaufverhalten der Kunden. Die Auswertung der Suchbegriffe gibt dem Unternehmen sogar noch Hinweise darauf, ob das Sortiment an der ein oder anderen Stelle unvollständig ist – und es dieses daher entsprechend ergänzen sollte.
Nutzt das Unternehmen SAP for Retail, kann es in Echtzeit die aktuellen Lagerbestände fortschreiben. Beim Ausbuchen an der Kasse wird der im Warenwirtschaftsmodul hinterlegte Produktbestand dabei automatisch reduziert. Diese Daten kann der Händler auch für den Webshop nutzen. So vermeidet er, dass dort Produkte als „erhältlich“ gekennzeichnet werden, die tatsächlich nicht mehr vorrätig sind. Unterschreitet das Unternehmen bei wichtigen Produkten einen bestimmten, vorher definierten Schwellwert, könnte es zudem automatisierte Bestellungen an die Lieferanten veranlassen. Die Bestellmengen kann es dabei statisch oder alternativ auch dynamisch durch statistisch ermittelte Trends festlegen.
“In vielen Fällen ist beispielsweise das Bestandsmanagement in den Filialen für Einzelhändler eine große Herausforderung.”
Dr. Mona Haarmann,
Managing Consultant,
Nagarro
Im Best Case kann ein Unternehmen sogar einen digitalen Zwilling der Filiale erstellen. Hierbei handelt es sich um ein virtuelles Abbild des physischen Ladenlokals. Mittels Sensoren, Kameras und/oder Robotern zeichnet der Händler dabei beispielsweise Anzahl und Menge der verfügbaren Produkte, ihren Standort auf der Fläche sowie alle zugehörigen Preise auf. Stellt ein Kunde dann beispielsweise ein Produkt in ein falsches Regal oder sind Preise versehentlich falsch ausgezeichnet, erkennt das System dies über die hinterlegte KI automatisch und informiert darüber die Mitarbeitenden. Diese werden dadurch um kleinteilige Kontrollarbeiten entlastet und können sich stattdessen auf die Kundenbetreuung fokussieren.
Warteschlangen minimieren
Technologie optimiert aber nicht nur die Logistik, sie kann auch unmittelbar das Einkaufserlebnis verbessern. Klassisches Ärgernis für Kunden sind – neben fehlender Beratung – vor allem ellenlange Schlangen an der Kasse. Schon heute reagieren manche Händler darauf, indem sie Einkaufswagen mit Scannern ausstatten. Die Kunden scannen dann die Waren selbstständig via Barcode ein, bevor sie diese in den Wagen legen – und bezahlen den gesamten Einkauf abschließend bequem an einem Selbstzahlterminal. Denkbar wäre auch, diese Technik unmittelbar mit einer App zu kombinieren – und dadurch weitere Zahlungsoptionen wie Kontoeinzug oder PayPal anzubieten. Perspektivisch könnten damit sogar die Kassen vollständig überflüssig werden.
Fazit
Der Einsatz moderner Technologien bietet dem stationären Handel somit eine Reihe von Optionen, sich im Wettbewerb mit Onlinehändlern zu behaupten. Zwar entstehen gerade zu Beginn der Transformation Kosten für die digitale Infrastruktur und neue Prozesse, dem stehen aber vielfältige, langfristige Einsparpotenziale und – vor allem – ein deutlich besserer Service gegenüber. Insbesondere durch die Automatisierung können Händler ihre Mitarbeitenden so von Routineaufgaben – etwa Inventur- und Aufräum-arbeiten – häufig deutlich entlasten. Gleichzeitig gewinnen diese dadurch Zeit, sich intensiver den Kunden zu widmen. Davon ist auch Torben Mauch überzeugt: „Uns geht es nicht darum, dass Mitarbeitende im Einzelhandel überflüssig werden. Ganz im Gegenteil. Wer vor Ort kauft, schätzt in der Regel den persönlichen Kontakt und individuelle Beratung. Wir wollen, dass sich Händler und ihre Mitarbeitenden auf diese Aufgaben konzentrieren können. Moderne Tools, die dies ermöglichen, sorgen somit dafür, dass die Arbeitsplätze sogar deutlich attraktiver werden.“