Innovation & Wirklichkeit
Man erzählt sich, dass um die Jahrtausendwende SAP das „Internet“ verschlafen hätte. Das weltweit führende ERP-Programm R/3 war damals eine Blackbox. NetWeaver und Co. waren noch nicht geboren und von Außen- und Fremdkontakten hielten die SAP-Programmierer nur wenig.
Fast schien es so, als ob der innovative Geist der fünf SAP-Gründer verraucht wäre. Diese falsche Einschätzung unterlief nur jenen Beobachtern, die Hasso Plattner nicht gut genug kannten.
Vielleicht gab es im SAP’schen Innovationszyklus eine Pause, aber Plattner blickte immer über den ERP-Tellerrand viele Jahre in die Zukunft. Von Professor August-Wilhelm Scheer ist die Aussage überliefert, dass er niemanden kennt, der ähnlich visionär wäre wie Plattner.
Und seit einigen Jahren ist die gesamte SAP wieder voller Tatendrang. Der neue Sturm und Drang begann mit Vorstandsmitglied Shai Agassi, den Plattner aus Israel beziehungsweise Kalifornien (USA) holte, ihm folgte der indischstämmige Vishal Sikka, der ebenfalls aus Kalifornien kam, wo er seinen Doktor in Mathematik an der Stanford University machte.
Auf Sikka folgte der Deutsche Bernd Leukert, unter dessen Führung das Framework Leonardo entstand – die Antwort von SAP auf die digitale Transformation. Und nun gibt es wieder einen „Plattner-Ziehsohn“:
Jürgen Müller studierte am Hasso-Plattner-Institut an der Universität Potsdam und übernimmt die Aufgaben von Bernd Leukert im SAP-Vorstand. Die Position des Technikvorstands bei SAP ist somit seit den Tagen von Shai Agassi durch innovative Personalfluktuation geprägt. Eine spektakuläre Idee folgte der nächsten.
Für die Bestandskunden bedeutet es nicht nur Freude, sondern auch Kopfzerbrechen. Naturgemäß freut sich jeder ERP-Anwender über Verbesserungen, Beschleunigungen und Vereinfachungen. Aber dieser Freude steht die operative Sorgfaltspflicht des CIOs gegenüber.
Eine innovative und gut gemeinte ERP-Änderung kann tagelanges Testen und die notwendige Schulung von Tausenden Mitarbeitern bedeuten. In der SAP-Community treffen Innovationen und Wirklichkeit hart aufeinander. Die Schizophrenie eines innovativen Geistes mit Verantwortung für einen operativen Betrieb ist kaum zu bändigen.
SAP will viel – zum Vorteil ihrer Bestandskunden. Aber manchmal will SAP zu viel und überfordert die Community. Das rechte Maß ist beim innovativen Vorwärtsstürmen schwer zu halten. Halb gezogen, halb geschoben durchlebt der Bestandskunde die SAP’schen Roadmaps.
Wer alles will, und das auch gleichzeitig, könnte am Ende leer ausgehen. Die Schizophrenie der SAP muss ein Ende haben, bleibt zu hoffen, dass im neuen Jahr Innovation und Wirklichkeit besser zur Deckung gebracht werden.