Spiegel-Skandal: Form follows Function
Die Form ist bei großen Spiegel-Reportagen immer gleich, stupide und langweilig: Die Reportagen beginnen mit dem kleinen Mädchen am Wegesrand, dem alten Mann im Bus, dem Teenager im Vergnügungspark, dem Topmanager im Fitnessclub.
Das sind Orte, wo man normalerweise allein ist, wo ein seriöser Journalist nichts zu suchen hat – aber es sind die Spiegel-Vorgaben. Die Chefredaktion ist besessen von „persönlich Betroffenen“, vom lächerlichen Beweis, dass der Spiegel ganz nahe bei den Menschen ist. Es muss zu Beginn jeder Reportage „menscheln“ und intim werden – egal um welches gewaltige geopolitische Thema es sich handeln mag.
Es ist eine journalistische Krankheit, immer etwas „Persönliches“ erzählen zu müssen, um den Leser auch wirklich zu beweisen, wie nahe man exklusiv und singulär am Geschehen ist.
Im besten Fall beruhen diese Angaben auf Hörensagen und sollen dem Status des Journalisten huldigen – wie nahe man doch bei den Mächtigen ist.
Warum ich das hier schreibe? Weil ich von solchen Eitelkeiten und vermeintlicher Exklusivität auch nicht frei war. Der Spiegel-Skandal hat mir die Augen geöffnet, wie lächerlich ein solcher Journalismus ist.
Der Spiegel hat sich nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, weil er einen betrügerischen Journalisten in seinen Reihen hatte, sondern weil die Chefredaktion lächerliche Vorgaben machte.
Das Prinzip heißt „Form follows Function“. Die äußere Form des Textes wird nicht durch den Inhalt bestimmt, sondern durch die selbst auferlegte Blattlinie.
Der Topmanager, der in der Früh den Müll rausbringt und säuberlich trennt, fährt danach ins Chemiewerk und verhandelt mit Behörden über Umweltauflagen. Warum kann man nicht gleich zum Thema vordringen?
Warum diese irrwitzige Vorgabe, dass jede Reportage mit Betroffenheit, Intimität und Individualität beginnen muss? Dort, wo es keine intimen Geheimnisse gibt, müssen auch einmal Fakten ausreichen.
Einen pointierten und perfekten Leserbrief hat Eckhard Päckert aus Berlin an den Spiegel geschrieben:
„Die besondere DNA des Spiegels zeigt von Beginn an die absichtsvolle stilistische Übersteigerung des Faktischen ins Essayistisch-Appellative. Man findet diesen Aplomb noch in den feinsten textlichen Verästelungen der Reportagen, bis hinein in die Bildunterschriften.
Journalistische Neugier und eine gute Portion aufklärerischer Ehrgeiz, die unbedingten Triebfedern des Metiers, gehen bei Herrn Relotius offenbar eine bösartige Allianz mit Korruption und pathologischer Geltungssucht ein, die dazu führte, dass er die haarfeine Demarkationslinie zwischen rein Faktischem und Fiktion, dem, was ist, und dem, wie es noch wirklicher und glaubhafter sein könnte, überschritt.“
Der Ex-Spiegel-Journalist Claas Relotius ist schuld, aber die Ursachen liegen bei der Blattlinie des Spiegels und bei der menschlichen Eitelkeit. Wir arbeiten in der E-3 Redaktion und zusammen mit unserem Lektorat/Korrektorat hart daran, solche Fehltritte zu vermeiden.
Sollten wir dennoch einmal die Grenze übertreten und SAP-Community-Standards verletzen, darf ich jeden Leser hiermit auffordern, uns unmittelbar in die Schranken zu weisen. Ich bin erreichbar unter:
pmf@b4bmedia.net und +49/8654/77130-21.
Danke!