Alter vor Schönheit
Am Anfang stand die Frage: Ist S/4 im Jahr 2022 noch zeitgemäß? Die Frage mag polemisch klingen, hat aber ihre Berechtigung – speziell bei größeren SAP-Bestandskunden. Der S/4-Releasewechsel kann, wie auch schon viele vorangegangene Updates und Versionswechsel, auch mehrere Jahre dauern. Inklusive Schulungen, Änderungen der Aufbau- und Ablauforganisation (digitaler Transformation) und des Testens, Testens, Testens kann die anstehende Conversion fünf Jahre und mehr dauern – dann steht der SAP-Bestandskunde kurz vor 2030 und macht sich Gedanken über sein ERP in der nächsten Dekade.
Im Jahr 2030 ist Hana etwa 20 und S/4 etwa 15 Jahre alt, wobei in S/4 auch Abap-Code steckt, der wesentlich älter ist. Ob es nach Hana und Hana 2.0 noch ein Hana 3.0 und so weiter geben wird – wie fälschlicherweise immer wieder vom E-3 Magazin prophezeit –, ist aus aktueller Sicht vollkommen ungewiss. Am Anfang erklärten Professor Hasso Plattner und sein damaliger Technikvorstand Vishal Sikka, dass sich Hana kontinuierlich und ohne Versionsnummern weiterentwickeln werde. Zur großen Überraschung präsentierte der Sikka-Nachfolger, Technikvorstand Bernd Leukert, auf einer SAP TechEd in Barcelona Hana 2.0, ließ die weitere Runderneuerung der Datenbank aber offen.
S/4 hingegen wird – wie die Vorgänger R/3 und ERP/ECC 6.0 – regelmäßig runderneuert. Hierbei sind gesetzliche Vorschriften und neue Forderungen der Bestandskunden die treibende Kraft. Dennoch ist die Frage gerechtfertigt: Ist S/4 im Jahr 2022 noch zeitgemäß? Die klare Antwort: Alter vor Schönheit!
SAP verfügt über mehr als vierzigjähriges ERP-Wissen. Die SAP-Geschäftsprozesse sind betriebswirtschaftlich und organisatorisch über jeden Zweifel erhaben. Komplexe Aufbau- und Ablauforganisationen lassen sich fast nur mit SAP-Software beherrschen – was aber nicht bedeutet, dass nicht Oracle, Salesforce, Workday und andere Anbieter in ausgewählten Bereichen auch gute Algorithmen anbieten. Aber aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist das alte ERP der SAP unschlagbar. Die Benutzeroberfläche hingegen war bei SAP schon immer grenzwertig – entweder sehr nüchtern im Stil des IBM-Mainframe-Zeitalters oder kunterbunt im Stil von Pippi Langstrumpf.
Somit die glasklare Antwort: Alter vor Schönheit. SAP wird nicht sterben, auch nicht an Altersschwäche, auch wenn Ex-Chef Bill McDermott schon einmal Probe liegt und neben ihm die Fiori-Blumen verwelken. Das Basiswissen, das Fundament von SAP, wird auch noch weitere 50 Jahre seine Gültigkeit behalten, aber einen Schönheitspreis wird SAP für sein ERP nicht mehr gewinnen. Vielleicht gelingt es Bill McDermott, mit ServiceNow die SAP rechts zu überholen, aber die ERP-Kompetenz, die einzigartigen betriebswirtschaftlichen Algorithmen verbleiben bei SAP – vielleicht sollte der junge SAP-Chef Christian Klein das seinen Bestandskunden wieder einmal sagen, denn Alter vor Schönheit muss kein Nachteil sein.