Atomisiertes Walldorf
Walldorf ist ein Schatten seiner selbst. Hinter der glitzernden Fassade bröckelt die Substanz. Das Desinteresse ist mit Händen greifbar. Die Autostadt Detroit hatte zwei Millionen Einwohner und war reich und mächtig. Die Autokrise machte daraus eine 700.000-Seelen-Gemeinde, die demnächst den Bankrott anmelden muss. Und was macht Microsoft in Seattle?
Einst interessierte sich die ganze IT-Welt für Bill Gates. Heute ist es still und einsam um den Microsoft-Boss Steve Ballmer geworden. Nicht einmal die MS-Word-Rechtschreibprüfung kennt noch seinen Namen: Während ich diese Zeilen schreibe, wird dieser rot unterwellt.
Ein willensstarker SAP-Chef, wie einst Henning Kagermann, lenkte erfolgreich mit seinen Vorstandskollegen die Geschicke der Community. Das Zentrum der ERP-Welt war Walldorf.
Heute ist die Vorstandsetage in der Dietmar-Hopp-Allee verwaist: Kurze Zeit noch werden SAP-Vorstand Gerd Oswald und Finanzvorstand Werner Brandt die Stellung halten. Für die Verwaltung hat man Luisa Deplazes Delgado als Personalchefin im Vorstand platziert.
Der Rest der Vorstandstruppe befindet sich im Ausland, wobei dieser Begriff für ein global agierendes Unternehmen schwer zu deuten ist. SAP ist eines der führenden DAX-Unternehmen mit deutschen Wurzeln und Werten.
Mehr noch, wenn man eine der SAP-Kernkompetenzen, das Rechnungswesen, betrachtet, dann ist SAP ein Unternehmen, das nur in Europa entstehen konnte. In der Nähe von Venedig lebte im 15. Jahrhundert der venezianische Mönch Luca Pacioli.
Er verfasste eine der ersten vollständigen Abhandlungen über die doppelte Buchführung. Zu seiner Zeit galt er als Universalgelehrter und allgemein gilt er als Wegbereiter des modernen Rechnungswesens.
Es lässt sich eine Geschichte aus Venedig bis nach Walldorf finden. Und trotz der inhaltlichen Kompetenz fallen Entscheidungen über die Zukunft von SAP immer häufiger im Ausland.
Wir leben in einem mobilen und globalen Wirtschaftssystem. Produktionsorte und Zentren für Innovation und Entwicklung werden beliebig dimensioniert und auf dem Globus verschoben.
Die kleinste Einheit ist das Home Office und gilt als Optimum unserer atomisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft. Im Buch „Philosophie des Geldes“ schreibt der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918):
„In der Urzeit hatte die Personalität die dinglichen Beziehungen überdeckt und verschlungen, in der Patrimonialzeit diese umgekehrt jene. Die Geldwirtschaft differenziert beides, Sachlichkeit bzw. Besitz und Persönlichkeit werden gegeneinander selbstständig.“
Eine Ursache der Krise könnte der Kapitalismus sein, der die arbeitende Masse in Einzelpersönlichkeiten atomisiert und dann in die versteckten Home Offices treibt. Ende Februar meldete Spiegel Online:
„Rückschritt ins 19. Jahrhundert – oder eine dringende Maßnahme zur Wiederbelebung von Yahoo? Marissa Mayer, die neue Chefin des Internetkonzerns, holt alle Mitarbeiter vom Home Office zurück in die Firmenzentrale.“ [27. 2. 2013]
Ist die Atomisierung des Wirtschaftssystems doch nicht der Königsweg? Während der vorangegangenen Jahrhundertwende warnte Simmel in seinem Buch „Philosophie des Geldes“ vor dieser Entwicklung und diskutierte über Verfahren, wie man in einer modernen Geldgesellschaft den Zusammenhalt herstellen könnte. Ähnlich argumentiert jetzt auch Marissa Mayer, wenn sie meint, dass Yahoo wieder eine interne Identität und eine externe Strategie finden muss.
Der SAP-Vorstand ist atomisiert und in alle Himmelsrichtungen zerstreut. In Zeiten des Mobile und Cloud Computing ist dieser Umstand sicher organisatorisch und logistisch zu beherrschen.
Aber wie oft treffen sich die Vorstände Bill McDermott, Jim Snabe, Lars Dalgaard und Vishal Sikka in der Walldorfer Kantine mit Gerd Oswald, Werner Brandt und Luisa Deplazes Delgado zum spontanen Meinungsaustausch? Wie viel Kraft, Zeit und Ideen gehen durch Mobile Computing, SMS, Videokonferenzen, Webinare verloren? Wie viel Innovation bleibt zwischen Schlafzimmer, Küche und Home Office liegen und wird von keiner Kollegin oder keinem Kollegen aufgegriffen?
Vielleicht erhält Jim Snabe bei Marissa Mayer Hilfe und eilt mit ein paar guten Ideen zurück nach Walldorf. Vielleicht kann man auch Lars Dalgaard aus der Wolke zurück auf die Erde nach Walldorf führen? Es wäre das Letzte, wenn die Historie, die im 15. Jahrhundert bei Venedig begann, in diesem Jahrzehnt in Walldorf endet.