Innere Werte
Ein theoretisches Greenfield-Projekt mit Hana und S/4 sowie der BTP würde uns alle im kommenden Sommer überzeugen. Es gibt die Werkzeuge und Ressourcen, um S/4 schnell und effizient zu customizen, wenn keine Altlasten existieren. Wer bei null anfangen darf, keine Rücksicht auf historische Daten nehmen muss und nicht die Bürde einer existierenden IT-Infrastruktur inklusive mehrerer Rechenzentren verantwortet, der kann innerhalb weniger Wochen ein perfektes S/4-System aus der Wolke vorweisen. So viel zur Theorie!
In der Praxis sind ich und viele meiner Kollegen mit Legacy-Systemen, Altdaten und heterogenen IT-Architekturen konfrontiert. Auch hier lässt sich naturgemäß eine S/4-Conversion erfolgreich durchführen – nur eben nicht in ein paar Monaten, sondern in ein paar Jahren. PoCs und Budgets sind zu organisieren, Ressourcen müssen vorgehalten werden, mit den Fachabteilungen müssen Zeitpläne orchestriert werden etc. Auch mit den besten IT-Werkzeugen dauert der Releasewechsel mehrere Jahre. Somit ist die Frage berechtigt: Ist S/4 im Jahr 2022 noch zeitgemäß?
Genau genommen geht es nämlich nicht um dieses und das folgende Jahr, sondern um das Jahr der Fertigstellung der Conversion. Was, wenn unvorhergesehene Ereignisse eintreten und sich das Customizing verzögert, ausgesetzt werden muss oder aufgrund neuer Organisationsstrukturen ein Reengineering erforderlich wird? Dann liegt möglicherweise der Fertigstellungstermin der S/4-Conversion um das Jahr 2030 und in diesem Jahr ist die Frage mehr als gerechtfertigt: Sind Hana und S/4 noch zeitgemäß?
Im Jahr 2030 ist die Datenbankplattform Hana etwa 20 Jahre und S/4 etwa 15 Jahre alt – eine Ewigkeit in der schnelllebigen IT-Welt. Hana und S/4 sind proprietäre Produkte der SAP, somit muss jede Innovation, Runderneuerung und Verbesserung von SAP selbst kommen. Für die Produkte gibt es keine Community, die mitentwickelt. Eine hohe Bürde für SAP! Früher war alles besser: SAP konzentrierte sich auf die betriebswirtschaftlichen ERP-Innovationen und die Hardware-, Betriebssystem- und Datenbankanbieter brachten ihre Verbesserungen ein. Nun ist SAP eine ERP-Insel und zum Selbstversorger geworden.
Wie sich SAP in Zukunft versorgen will, erscheint nach dem alljährlichen Sales-Kick-off (Customer Success Summit) auch sehr interessant: Unser SAP-Kontakt berichtete von umfassenden Änderungen bei Provisionen und Boni. Nicht nur wurde das Konzept von Christian Klein weiter verschärft, bei dem Erfolgszahlungen weitgehend von der Zufriedenheit der Kunden abhängig sein sollen, sondern es wurde im Vertrieb auf ein „Cloud only“-System umgeschaltet. Vereinfacht dargestellt: Der Vertriebsbeauftragte bekommt nur dann eine Prämie, wenn es sich um ein SAP’sches Cloud-Produkt handelt. Eine On-prem-Conversion soll demnach keinen Bonus bringen. Was uns aber nicht abhalten sollte, weiter On-prem-Lizenzen zu kaufen.
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube: „Cloud first“ kann ein Konzept sein, aber „Cloud only“ wahrscheinlich weniger. Es wird Cloud-Funktionalität im eigenen Rechenzentrum geben – also eine klassische On-prem-Landschaft. SAP selbst bietet dafür die On-premises-Cloud-Option S/4-Hana-Cloud-PE-CDC an (Private Edition für Customer Data Center). Diese interessante S/4-Version ist auf der SAP-Website schwer zu finden, es gibt nur eine 15-seitige Powerpoint-Präsentation. Mehr Information über S/4 Private Edition im Customer Data Center gibt es bei HPE, die auch uns beraten und mit Informationen aushelfen.
Wenig Information über die S/4 Private Edition ist natürlich die Konsequenz aus einem „Cloud only“-Bonus für die Vertriebsmannschaft. Die Praxis aber wird hybrid sein. Wie sich in dieser Realität dann aber ein SAP-Vertrieb positionieren will, der mit seinen Prämien offensichtlich zu 100 Prozent vom Cloud Computing abhängig sein wird, ist mir und meinen SAP-Stammtischschwestern und -brüdern noch ein Rätsel. Tatsache ist, auch bei SAP gibt es sinnvolle Alternativen zum „Cloud only“ und damit ist schon einmal viel gewonnen!