Jahr eins nach dem SAP-Jubiläum
Die ganze Vielfalt der SAP
Genau wie im Jahr eins nach Gründung von SAP sollte auch im Jahr eins nach dem Jubiläum der Kunde im Mittelpunkt stehen. Klingt einfach, ist es aber nicht. Das zeigt der Blick in die Geschichte ebenso wie ein Blick auf die Gegenwart.
Pünktlich zur Feier ist auch ein Bildband erschienen, der mit bislang unveröffentlichten Fotografien „die ganze Vielfalt der SAP“ abbilden möchte, wie der Verlag ankündigt. Bei Amazon entdeckt man das Buch erst nach einigem Suchen – und findet bis dato keine einzige Kundenrezension. Das sagt auch etwas aus.
Um Gratulanten mussten sich Konzern, Vorstand und Aufsichtsrat 2022 indes nicht sorgen. Bundeskanzler Scholz hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich zum Festakt in die SAP-Arena in Mannheim zu kommen und die Erfolgsgeschichte zu würdigen. Die Gründung der SAP 1972 habe zum Zeitgeist gepasst, so der Kanzler.
Technikbegeisterung, Aufbruchstimmung und politisches Tauwetter im Kalten Krieg prägten die Welt, als die fünf SAP-Gründer mit einer Idee ihre eigene Revolution entfachten. Mit einer Standardsoftware, die alle Geschäftsprozesse im Unternehmen abbildet und Daten in Echtzeit zur Verfügung stellt, machten sie aus dem einstigen Start-up einen Weltkonzern.
Aus Nähe zum Kunden
Warum sitzt SAP eigentlich in Walldorf? Weil die fünf Gründer vor allem auf Kundennähe setzten. Dietmar Hopp, Hasso Plattner, Claus Wellenreuther, Klaus Tschira und Hans-Werner Hector waren in den Anfangstagen vor allem in den Rechenzentren ihrer Kunden anzutreffen, um dafür zu sorgen, dass die Software sie nicht nur zufrieden, sondern richtig glücklich macht und genau die Daten, die gebraucht werden, in dem Moment, in dem sie gebraucht werden, zur Verfügung stellt.
SAP-DNA und Vision
Der große Kunde, mit dem vieles begann, die Imperial Chemical Industries (ICI) mit ihrer deutschen Niederlassung im Kraichgau, ist längst zerschlagen. SAPs Vision bleibt lebendig. „Kundennähe, Wissen über die einzelnen Branchen plus die richtige Balance zwischen individuellen Ansprüchen und standardisierten Anwendungen: Bis heute ist das die Grundlage des Erfolgs von SAP“, lobte der Bundeskanzler den Konzern in seiner Jubiläumsrede.
Lösungsorientierung und Kundenfokus stehen auch für Vorstandssprecher Christian Klein im Mittelpunkt. Diese Werte hätten die SAP zu dem gemacht, was sie heute ist. „Diesen Teil unserer DNA dürfen wir niemals verlieren“, betonte auch er auf dem Festakt in Mannheim. Er selbst habe von den Gründern den Mut zum Wandel gelernt sowie die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden und den Status quo infrage zu stellen.
Zeitenwende: Cloud Computing
Die Frage, ob SAP wirklich in der Lage ist, sich zu verändern, ohne die eigene DNA infrage stellen zu müssen, wird vielleicht schneller auf der Tagesordnung stehen, als Christian Klein lieb sein kann. Er muss Gas geben beim Umstieg in die Cloud und den Strategiewechsel der SAP unumkehrbar machen. Das verlangen Aufsichtsräte, Analysten und Aktionäre. Der Druck steigt. Das Jahr eins nach dem Jubiläum wird wahrscheinlich für Klein wie für die SAP entscheidender als das Jubiläumsjahr selbst – auch wenn bereits dieses Jahr von reichlich Zeitenwende und „tektonischen Verschiebungen im Zeitraffer“ geprägt war, wie der Bundeskanzler feststellte.
Worauf kommt es an? Die Kunden mitzunehmen und mit ihnen neue Lösungen zu finden. Dazu brauchen die Beteiligten Mut, Einfühlungsvermögen und einen guten Schuss Absichtslosigkeit. Dieser Spirit prägte vor fünfzig Jahren auch die fünf SAP-Gründer, als sie von Rechenzentrum zu Rechenzentrum pendelten und nicht ahnen konnten, dass ihr Unternehmen fünfzig Jahre später auf mehr als hunderttausend Mitarbeiter anwachsen sollte.
Carve-out
Das große Aufräumen 2023: Litmos, IS-H und Business ByDesign kommen auf den Speicher. Das neue Jahr beginnt mit einem großen Reinemachen. Christian Klein räumt auf und säubert das Portfolio. SAP will Investitionen bündeln und Geld nur noch in Projekte stecken, die Wachstum versprechen. Gleichzeitig stehen bei Hunderten von Produkten teure Sicherheits- und Funktionsupdates an. Es wird wohl Zeit für den harten Schnitt. Also trennt sich SAP von der Lernplattform Litmos. Auch der Service für Business ByDesign, die Miet-Software in der Cloud, soll zurückgefahren werden. Aus dem Gesundheitswesen zieht sich SAP ebenfalls zurück und kündigt an, die Unterstützung für die Krankenhausmanagement-Software IS-H (Industry Solutions Healthcare) einzustellen. Eine Nachfolgelösung auf S/4 soll es von SAP selbst nicht mehr geben. Damit verabschiedet sich SAP aus dem Healthcare-Bereich. Der Vorstand wünscht sich mehr Planbarkeit.
Conversion
SAP meint, erkannt zu haben, dass ihre Kunden schnell in die Cloud umsteigen möchten. Der Konzern hat die Modernisierung seines Cloud-Betriebs beschleunigt, um eine harmonisierte Infrastruktur für die Bereitstellung von Cloud-Lösungen früher als geplant zu erreichen. Christian Klein und seine Vorstandskollegen haben sich zum Ziel gesetzt, das Wachstum bei den Cloud-Erlösen auf über 22 Milliarden Euro im Jahr 2025 zu steigern. Vor allem der „Anteil der besser planbaren Umsätze“ soll auf etwa 85 Prozent ausgebaut werden. Dieses Plus an Planbarkeit bezahlen viele Kunden mit einem Mehr an Aufwand, an Chaos und Unplanbarkeit.
Zum Beispiel die Kliniken, die bisher mit SAP gearbeitet haben – und das sind viele in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie müssen ihre Krankenhausinformationssysteme nun in Eigenregie umstricken. So wie viele Mittelständler, die auf die Mietlösung SAP Business ByDesign gesetzt haben und nun statt mit einem Funktionsupdate pro Quartal nur noch mit Sicherheitspatches und legalen Updates vorliebnehmen müssen.
Optimismus und Unbefangenheit
Als SAP 1972 gegründet wurde, war Christian Klein noch nicht auf der Welt. Geboren wurde er acht Jahre später. Vor dreißig Jahren, als er mit dreizehn Jahren noch Vokabeln, Grammatik und binomische Formeln büffeln musste, durfte ich in die SAP-Welt einsteigen. 2006 wagte ich den Weg in die Selbstständigkeit, 2016 gründete ich Adventas. Seit 2012 darf ich mich als SAP-Mentor einbringen und insbesondere die Entwicklung von SAP ECC und S/4 Hana vorantreiben. Ich bin froh und stolz, dass ich SAP ein gutes Stück ihres fünfzigjährigen Erfolgswegs habe begleiten dürfen.
Jetzt, da wir 2023 in die nächste Etappe einsteigen, tut es vielleicht gut, innezuhalten und sich noch einmal genau zu vergegenwärtigen, was uns in der Vergangenheit erfolgreich gemacht hat. Ich denke, für mich wie für die SAP liegt die Wurzel des Erfolgs in der Nähe zum Kunden und dem festen Versprechen, nach Lösungen zu suchen, die in noch keiner Schublade zu finden sind. Diesen Gründergeist, diesen Optimismus und diese Unbefangenheit braucht man, wenn man startet, gründet, loslegt. Die Kunden schätzen das und zahlen gerne zurück: mit Offenheit, mit Geduld und nicht zuletzt mit Loyalität, die dringend gebraucht wird, wenn es mal ernst wird und Sachen schieflaufen.
Wie viel Zeit gibt SAP den Kunden?
SAP ist ein Weltkonzern mit umfangreichem Portfolio, bei dem einiges schieflaufen würde, wenn alles glatt- und reibungslos ginge. Deshalb ist Kundennähe im wörtlichen und im übertragenen Sinne so wichtig. Erst recht in einem Change- und Konsolidierungsprogramm, wie es sich die SAP auferlegt hat. Dass Christian Klein schnell, konsequent und mächtig alle Geschäftsprozesse in die Cloud verlagern will und muss, können Analysten und Aktionäre gut verstehen.
Viele Kunden aber können nicht so schnell, wie sie gerne wollten. Sie suchen händeringend nach Lösungen, die ihnen den Weg in die Cloud ebnen und gleichzeitig die altbekannten On-premises-Lösungen zumindest für eine Übergangszeit erhalten. SAP setzt vermehrt auf hybride Landschaften. Der Umstieg auf S/4 soll allen die Möglichkeit bieten, ihre Geschäftsprozesse zu standardisieren. Dass die Cloud die Zukunft ist, haben die Kunden mittlerweile verstanden. Bleibt die Frage: Wie viel Zeit bleibt für den Übergang? Wem nutzt die Ausrichtung auf „planbare Umsätze“?
Planbare Umsätze
Die Rhetorik der „planbaren Umsätze“ und hektische Portfolioanpassungen senden Kunden gefährliche Signale. Viele Fragen sind offen: Auf welche Produkte, Lösungen und Services setzt SAP auch in Zukunft? Welche einstmals euphorisch gefeierten Lösungen werden sang- und klanglos eingestellt? Wie viel Zeit bleibt noch? Was zählt mehr: Tempo oder Kundennutzen?
Start-ups und Kleinunternehmen fällt es leichter als Großkonzernen, auf Planbarkeit und detaillierte Strategieszenarien zu verzichten. Über ihre Zukunft entscheidet hauptsächlich der Kunde mit seinen Plänen, Bedürfnissen und Prioritäten. Dafür zieht man schon einmal in die Nähe des Rechenzentrums und schmeißt die eigenen Pläne über den Haufen. Genau diese absolute Verpflichtung auf den Kundennutzen droht SAP abhandenzukommen.
Was nutzt es einem Rennfahrer, wenn das Ziel klar und vor Augen ist, auf dem Weg dorthin aber die Türen wackeln, der Motor überhitzt und die Klimaanlage ausfällt? Und, vielleicht noch wichtiger: Was passiert, wenn der Fahrer nicht weiß, wie lange die Strecke ist, was hinter der nächsten Kurve auf ihn wartet und ob es bei der nächsten Panne überhaupt noch Ersatzteile gibt?
Customer first und only
„Cloud first“ ist richtig, aber „Customer first“ ist richtiger. Christian Klein hat des Öfteren klargestellt, dass seine Devise „Cloud first“ und nicht „Cloud only“ heißt. SAP bietet auch weiterhin On-premises-Lösungen an. Rhetorik, Marketing und Portfoliopolitik sprechen indes mehr die Sprache des „Cloud only“ – so kommt es zumindest bei vielen Kunden an, vor allem im Mittelstand. Will SAP im neuen Abschnitt der Unternehmensgeschichte – im Zeitalter der Cloud – zügig vorankommen, sollte sie sich neben dem Cloud-Credo auch zwei gleichwertigen Prinzipien verpflichten: „Customer first“ und „Customer only“. Eines hat die fünfzigjährige Geschichte eindeutig gezeigt: Der Erfolg der SAP ist immer zuallererst der Erfolg ihrer Anwender. Alles Gute für die nächsten fünfzig Jahre, SAP!