Low-SAP/No-SAP
Meine Frau meint ja, dass man dem jungen Familienvater eine Auszeit gönnen sollte, und sie erinnert mich an den Anfang unserer Familie. Mittlerweile sind unsere zwei Kinder außer Haus und stehen auf eigenen Beinen. Christian Klein aber steht am Beginn zweier herausfordernder Karrieren – als Familienvater und SAP CEO.
Abgesehen vom Börsenkurs, der bekanntermaßen das Spielfeld von Ex-SAP-Chef Bill McDermott war und ist, macht Christian Klein momentan vieles richtig. Die geschickte Hand und das Gespür für die Befindlichkeiten der Investoren und Finanzanalysten wie sein Vorgänger hat Klein jedoch nicht.
Bill McDermott hat bei seinem neuen Arbeitgeber ServiceNow bereits mitten in der Pandemie den Aktienkurs nahezu verdoppelt. Meine Frau, die McDermott einmal in Berlin persönlich kennenlernte, meint, er sei ein Blender.
Im Manager Magazin hat Eva Müller aktuelle Medienberichte analysiert. Das Resultat: „Die klare und visionäre Führung von McDermott habe der SAP-Aktie einen wahren Höhenflug beschert.“ Ich bezweifle aber, dass die hervorragende SAP-Kennerin Müller auch persönlich dem Ex-Chef klare und visionäre Führung attestiert. Meine Vermutung: Eva Müller tendiert mehr zu der Meinung meiner Frau.
Als SAP-Bestandskunde und Group CIO beschäftigt mich mehr das gemeinsame Treiben unserer drei Musketiere: Christian Klein, Jürgen Müller und Thomas Saueressig. Auch wenn ich SAP-Aufsichtsrat Gerd Oswald im Hintergrund weiß, die Herausforderung für die drei ist nicht zu unterschätzen – und 2021 wird es erst wirklich losgehen – technisch für Müller und anwendungsbezogen für Saueressig.
Christian Klein hat vielleicht in allerletzter Sekunde den Turnaround geschafft – verzeihen Sie den Anglizismus. Die Integration, die Konsolidierung des ERP-Mengengerüsts und der Stammdaten (MDM) sowie die Rückführung auf die SAP’sche Kernkompetenz – alles geht aus vom Beleg und führt hin zum Beleg – sind seine Vorhaben. Gemeinsam mit Jürgen Müller und Thomas Saueressig wird Christian Klein diese herausfordernde Arbeit wahrscheinlich gelingen. Der Applaus von uns Bestandskunden wird ihm sicher sein, angetrieben werden sie von unserer DSAG.
Alle Erfolge des SAP-Vorstands können aber die rasante technische IT-Entwicklung nicht aufhalten: Mit den Cloud-Funktionen der Hyperscaler, dem Datenmanagement in hybriden IT-Architekturen, Open-Source-Angeboten von Suse und Red Hat sowie den wachsenden Low-Code/No-Code-Plattformen können wir SAP-Bestandskunden uns weiter von SAP emanzipieren und über den Tellerrand blicken.
In meinen IT-Abteilungen sind viele junge SAP-Spezialisten und Programmierer von den Low-Code- und No-Code-Plattformen fasziniert. Natürlich können diese jungen Leute auch Javascript, PHP, Python, C++ und andere objektorientierte Programmiersprachen, aber mit einer visuellen Kommandooberfläche geht es schneller inklusive Scrum sowie DevOps.
Die Bemühungen, das SAP-Kerngeschäft retten zu wollen, müssen Christian Klein angerechnet werden, aber sein Vorgänger und er selbst haben die Innovationsplattform Leonardo gegen die Wand gefahren. Das ist kein Nachteil für uns Bestandskunden, weil es zahlreiche Alternativen am Markt gibt, aber SAP hat damit leichtfertig einen Trumpf aus der Hand gegeben – mit dem Ergebnis: Zukünftig werden viele Entwicklungen rund um ERP und dessen Weiterentwicklung mit No-SAP-Produkten oder schwacher Beteiligung von SAP (Low-SAP) stattfinden.
Ältere Semester (50 plus) kennen noch die zahlreichen Individualprogrammierungen mit Fortran, Cobol, PL/1 und auch Assembler. Dann kam die Zeit der betriebswirtschaftlichen Standardsoftware – nicht nur bei SAP in Walldorf, auch bei Heinz Nixdorf aus Paderborn. Mit Low-Code/No-Code-Plattformen, hybriden Cloud-Architekturen, KI, Blockchain etc. wird es wieder effizient und erfolgreich, eigene Ideen auf sehr individuelle Art umzusetzen.
Hier könnte es sich ergeben, dass wir Bestandskunden SAP viel weniger brauchen als in der Vergangenheit, dass Christian Klein weiterhin alles richtig macht, dass es aber nicht mehr relevant ist. SAP unter der Führung von CEO Klein muss aufpassen, nicht in Schönheit zu sterben. Viel IT-Erfolg und anhaltende Gesundheit wünsche ich Ihnen für 2021 – mit und ohne SAP.