Realitätsverlust in der SAP-Strategie
Wohin führt SAP-Chef Christian Klein den ERP-Weltmarktführer? Die Frage nach der Zukunft von SAP wirkt auf den ersten Blick ketzerisch: SAP ist ERP-Weltmarktführer. Christian Klein führt SAP mit sicherer und ruhiger Hand. Der Aktienkurs ist zufriedenstellend. Der Aufsichtsrat verhält sich ruhig und die meisten SAP-Partner sind loyal.
Es finden sich genügend positive Aspekte, sodass letztendlich Professor Hasso Plattner und Christian Klein zufrieden sein könnten, wenn es auf der negativen Seite nicht drei wesentliche Faktoren geben würde: die Bestandskunden, die eigenen Mitarbeiter und den deutschsprachigen Anwenderverein (DSAG).
In zwei der drei Fälle darf sich Christian Klein sogar noch glücklich schätzen: Mitarbeiter und DSAG artikulieren ihren Unmut und ihre Kritik deutlich und lautstark. Die SAP-Bestandskunden hingegen akzeptieren ruhig und still das unvermeidliche Hana und S/4.
Die Stille täuscht! Ist es die Ruhe vor dem Sturm? „Wer nicht mehr wütend ist, bewegt sich nicht mehr“, war vor einigen Wochen auf der Website des Manager Magazin zu lesen. Es ist die Ruhe in der SAP-Community, die Christian Klein sehr nervös machen sollte.
Viele SAP-Bestandskunden haben das unvermeidliche Hana sowie S/4 akzeptiert und bewegen sich in eine andere Richtung. SAP verliert den Hoheitsanspruch in der ERP-Landschaft. SAP verwirrt mit widersprüchlichem Verhalten: Cloud only steht ein sehr erfolgreiches On-prem-Produkt gegenüber. SAP BRIM, Billing and Revenue Innovation Management, ist nicht nur sehr gute Software, sondern auch eine Cashcow für SAP.
Antonia Götsch schrieb im Manager Magazin: „Kollegen, die sich ständig beschweren und motzen, haben einen schlechten Ruf. Doch Unternehmen brauchen unzufriedene Mitarbeitende. Für SAP-Managerin Nina Strassner waren Wut und Unzufriedenheit oft Motor für wichtige Veränderungen.“ Damit erfüllt der Anwenderverein DSAG eine sehr wichtige, bereinigende und kritische Funktion. Die Mitglieder und der Vorstand der DSAG beschweren sich und motzen – daraus kann SAP viel lernen und erfahren. Leider ist SAP nur allzu oft lernresistent und ignorant gegenüber dem Mitstreiter DSAG.
Nur 58 Prozent der Mitarbeiter in Deutschland sind von der Zukunft SAPs „begeistert“, so berichtete es das Handelsblatt auf seiner Website. Nur 48 Prozent sagen: „Ich habe volles Vertrauen in den Vorstand.“
MM-Autorin Antonia Götsch sprach mit Nina Strassner, Global Head of People Initiatives bei SAP, und diese meinte, dass Mitarbeitende, die sich beschweren, dem Unternehmen zeigen, wo Potenzial für Verbesserungen liegt. Sie trieben Veränderungen voran, legen den Finger in die Wunde. Die vom Handelsblatt veröffentlichten SAP-Mitarbeiterzahlen zeigen demnach ein großes Potenzial für Veränderung – ob SAP-Chef Christian Klein diese Chance erkennt, ist nicht bekannt.
Dramatisch hingegen wird es im Bereich der SAP-Bestandskunden. Wenn deren Beschwerden nicht über den Verein DSAG artikuliert werden, bleiben sie oft ungehört oder werden erst gar nicht kundgetan. Das öffentliche Schweigen der SAP-Bestandskunden ist eine große Gefahr für SAP, weil davon auszugehen ist, dass sich bereits viele Anwender abgesetzt haben. Auch andere IT-Anbieter haben interessante SCM-, CRM- und PLM-Produkte. Cloud Computing muss nicht in der SAP Private oder Public Cloud stattfinden, sondern kann auch bei Outsourcern, Hostern und Hyperscalern implementiert sein.
Die zukünftigen Innovationen von den SAP-Vorständen Jürgen Müller und Thomas Saueressig sollen aber nur für Bestandskunden zugänglich sein, die S/4 Cloud Public Edition oder Private Edition über Grow-with-SAP oder Rise-with-SAP-Verträge nutzen. Jens Hungershausen, Vorstandsvorsitzender des deutschsprachigen Anwendervereins DSAG, brachte es auf den Punkt: „Aus DSAG-Sicht ist das eine 180-Grad-Wende zu den bisherigen Äußerungen. SAP hatte zuvor behauptet, Verbesserungen nicht auf cloudbasierte Angebote beschränken zu wollen. Die Aussage ist ein schwerer Schlag. Sie kommt einem Paradigmenwechsel gleich.“ Jürgen Müller und Thomas Saueressig werden die Unzufriedenheit mit dem SAP-Vorstand nicht unbeschadet überleben.
SAP hat die Unzufriedenheit beim Thema Cloud Computing erkannt und überraschend die Zertifizierung für Outsourcer und Hoster annulliert, um das Rise- und Grow-Programm für die eigene Public Cloud zu stärken. Wenn das nur kein Realitätsverlust ist?