Work-Life-Balance
Meine Frau hat es bemerkt:
„Du bist in letzter Zeit sehr viel zu Hause. Bereitest du dich auf die Altersteilzeit und den Vorruhestand vor, wie das offensichtlich nun einige deiner SAP-Kollegen vielleicht nicht ganz freiwillig machen?“
Nein, denn eigentlich plane ich, noch einige Jahre diesen CIO-Job zu machen, der mir immer noch sehr viel Freude bereitet. Damit ich noch viele Jahre durchhalte, habe ich mir vorgenommen, auf meine Work-Life-Balance mehr achtzugeben. Es ist eine Frage der Verantwortung gegenüber mir selbst, gegenüber meiner Frau und auch gegenüber meinem Unternehmen und dessen Mitarbeitern.
Mein Freund Gerd Oswald hat mit viel Glück mehrfach schwere gesundheitliche Attacken überstanden und sitzt jetzt voll Tatendrang im SAP-Aufsichtsrat. Ich will es nicht so weit kommen lassen und bin somit mindestens dreimal pro Woche im Fitnessclub.
Eine ganz andere Balance versucht momentan SAP – oder besser formuliert: Ich bin mir nicht sicher, ob SAP sich der Verantwortung bewusst ist, was es bedeutet, zwischen einem Softwarehersteller für On-premise-Applikationen und einem Cloud-Anbieter für Enterprise-Applikationen zu pendeln. Natürlich: Leben ist Veränderung. Aber SAP war vierzig Jahre ERP-SW-Hersteller in einem nahezu perfekten Ecosystem.
Die Verantwortungen waren optimal aufgeteilt: SAP produzierte ERP-Applikationen und die notwendige Middleware; IBM, Microsoft, Oracle und andere lieferten die dazu passenden Datenbanken; zahlreiche Hardwarehersteller schufen die Infrastruktur; und die SAP-Partner besorgten das Customizing.
Es herrschte über viele Jahre eine harmonische Balance zwischen SAP, den IT-Unternehmen und Beratungshäusern. Die SAP-Community befand sich in einer nahezu optimalen Work-Life-Balance.
Sybase, Hana und Cloud Computing veränderten alles! Anstatt den erfolgreichen Weg weiter zu optimieren, stellt SAP leichtfertig das ERP-Alleinstellungsmerkmal infrage und engagierte sich bei Themen, wo andere Unternehmen bereits einen eklatanten Vorsprung hatten.
Mit Sybase stieg SAP in das Datenbankgeschäft ein und musste über Nacht ganz anders gegenüber IBM, Microsoft und Oracle argumentieren. Mit Hana etablierte SAP in der Community ein monopolistisches System: Zukünftig besteht die ERP-Infrastruktur ausschließlich aus Linux und der Datenbankplattform Hana.
Damit reduzierte man auch die Hardware auf Xeon- und Power-Server. Zusätzlich beschloss der ERP-Weltmarktführer, auch Cloud-Anbieter zu werden. Eine Weiterentwicklung und Adaptierung der eigenen und zugekauften Applikationen in Richtung „Cloud“ wäre logisch gewesen – ein Mitbewerber zu den Hyperscalern zu werden erscheint betriebswirtschaftlich unsinnig.
Nicht nur, dass durch Sybase, Hana und Cloud die Work-Life-Balance in der SAP-Community aus dem Ruder lief, muss ich mir auch heute die Frage stellen: Ist sich SAP der Verantwortung bewusst, die der ERP-Konzern hier schultert?
Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ich ERP-Software-Hersteller bin oder Datenbank-Erfinder, Handelsplattform (Ariba), Softwarebetreiber (Cloud Computing) oder Berater (Trusted Advisor). Hersteller oder Betreiber? Offensichtlich findet SAP hierbei keine Balance.
SAP LaMa läuft mittlerweile vollkommen aus dem Ruder. Drei Notfall-Patches innerhalb von vier Monaten bei der Hana-Datenbankplattform sind nicht tolerierbar.
Ein Cloud-Angebot, das nicht in alle Richtungen skalierbar ist (atmendes System), läuft der Idee des „Cloud Computing“ zuwider. Nicht nur bei uns verabschieden sich IT-Abteilungen aus der HEC und setzen auf On-premise, auch an meinem SAP-Stammtisch wird der Hana-Enterprise-Cloud-Exit diskutiert.
SAP ist sich ihrer neuen Rolle als gewollter „Hyperscaler“ in keiner Weise bewusst. SAP-Chef Bill McDermott will als Verkäufer mehr Umsatz, aber ohne ein Mehr an Verantwortung.
Diese Balance kann nicht aufgehen. Wenn SAP langfristig und nachhaltig Erfolg mit „Cloud Computing“ haben will, muss der kulturelle Wandel vom SW-Hersteller zum SW-Betreiber gelingen und eine neue Work-Life-Balance in der SAP-Community erwachsen.